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Rundbrief Oktober 1999

Halhul, den 29.10.99

Liebe Freunde,

Jetzt lebe ich seit einem Monat in Halhul, und es wird Zeit, daß Ihr wieder von mir hört.

Natürlich ist der Anfang anders geworden, als ich es mir vorgestellt hatte. Khalil, der junge Mann, der mich eingeladen hatte, nach Halhul zu kommen, war von der palästinensischen Sicherheit gewarnt worden, mit mir (und einer Organisation) ein "offenes Haus" in Halhul zu führen, in dem auch Juden ein- und ausgehen. Dafür sei nicht die Zeit; es sei kein Frieden und er sei hoffentlich kein Kollaborateur. "Wir müssen also mit kleinen Schritten anfangen...", bat er mich. "Aber es wäre schön, wenn ich käme, als Privatperson." Ich beriet mich mit Marylene Schultz und Diet Koster, die in El Aysarya im Auftrag des CFD arbeiten, wie ich mich zu verhalten habe. Jetzt werde ich in Hebron in einem Heim für behinderte Kinder tageweise als Volontärin arbeiten, das einem dafür gegründeten palästinensischen Verein, der " ge Gäste von außerhalb sind im Haus herzlich willkommen; Khalils Vater sagte mir, daß meine Gäste auch seine Gäste sein werden.
Ich habe deshalb auch noch keinen Vertrag mit Amos Quirz gemacht und bisher nur mit ihm telefoniert.

Zunächst bin ich aber ganz davon in Anspruch genommen worden, daß es einen handgreiflichen Nachbarschaftsstreit gab. Die Art, mit solchen Dingen umzugehen, ist hier eine ganz andere als in Deutschland. Alle Mitglieder der Großfamilie kommen; es wird mehrere Tage lang diskutiert, bis sich die Männer der zerstrittenen Familien zusammensetzen, eine Lösung aushandeln und diese dann mit einer besonderen Zeremonie verbindlich beschließen und damit den Streit beenden. Sie trinken einen besonderen Kaffee gemeinsam erst im Haus der einen, dann der anderen Familie. Dabei müssen die selben Tassen und die selbe schöne, traditionelle Kanne verwendet werden. Diese Würde zu sehen, die vielen Männer mit ihren Tüchern auf dem Kopf, die Aufregung, das war schon erlebenswert.

Leider ist es hier trotzdem manchmal nicht besser als anderswo: Die Frauen hatten den Streit nicht beilegen können; so gab es immer mal wieder Ärger, verbunden mit heißen arabischen Diskussionen im Familien- und Freundeskreis; schließlich haben sich die jungen Männer zusammengesetzt und beschlossen, ihre Mütter zur Ruhe zu mahnen.

Damit, daß ich Zeit hatte, bei solchen Diskussionen dabeizusitzen, haben mich viele Menschen kennengelernt und mir gezeigt, daß sie sich freuen, daß ich DA bin, an ihrem Leben teilnehme und an ihren Sorgen und Problemen. Dieses Vertrauen zu erlangen, ist, glaube ich, ein wichtiger Schritt gewesen. Und ich habe auf diese Art zwar noch nicht arabisch sprechen, aber doch einiges zu verstehen gelernt. Sehr schön ist auch der Kontakt zu den vielen Kindern, die mir überall begegnen oder mich besuchen kommen und die Geduld haben, mir immer wieder arabische Worte oder Sätze vorzusprechen und mit mir zu üben. Und sie fangen an, das Englisch, das sie in der Schule (nicht) lernen, anzuwenden.

Das Leben hier ist nochmals eine große Umstellung im Vergleich zum Leben in Abu Dis. Halhul ist eine sehr dorfähnliche Stadt mit ca. 25 000 Einwohnern in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hebron. Alle Menschen hier sind Moslems, und auch ich muß mich in bestimmtem Maße den traditionellen Regeln - die ich oft nicht verstehe oder eigentlich nicht akzeptieren will - anpassen.
Ich muß mich auch daran gewöhnen, daß ich etwas besonderes bin, auffalle und beobachtet werde, auch wenn mir alle mit sehr viel Wohlwollen begegnen. Ich weiß inzwischen, daß das umschlagen kann, wenn ich irgend etwas tue, was sich für eine Frau nun wirklich nicht gehört nach hiesigem, manchmal sehr engem Maßstab, und ich so eine Gradwanderung wagen muß zwischen dem, was hier normal ist und den Freiheitsgraden und der Eigenständigkeit, die ich als Minimum brauche.

Den Palästinensern hier ist Individualität fremd und es fällt ihnen schwer, zu verstehen, daß ich mein eigenes Reich brauche oder allein sein will. Sie sind das Zusammenleben gewohnt; es stört niemanden, wenn einer im Raum schläft, lernt, schreibt oder was auch immer, während die anderen reden und der Fernseher läuft. Und Gäste sind jederzeit willkommen, bis spät in die Nacht hinein. "Ich habe jetzt keine Zeit" ist, glaube ich, für sie ein unvorstellbares Wort. Und ich merke, daß mich die ständigen Diskussionen und die vielen Leute anstrengen. Ich habe immer wieder das Gefühl, daß hier alle die Probleme der anderen auf ihre Art zu lösen versuchen , wirklich lieb und bemüht zu helfen, und wenn sie selbst Probleme haben, von anderen erwarten, daß diese jene lösen. Das ist für mich verwirrend, und ich habe dabei das Gefühl, daß ich zweifach eingeengt und vereinnahmt werde und dadurch unnötige Mißverständnisse entstehen. Denn es ist fast alles anders als bei uns: der Geschmack bezüglich Kleidung und Wohnung, das Essen, die Art, die Räume zu reinigen oder das Geschirr zu spülen...; also erst einmal beiderseits trainieren: keiner macht es "falsch", weil er es "anders" macht. Wir müssen lernen, einander in unserer anderen Art zu respektieren, sie nicht gleich als verletzend zu empfinden - und das mit sehr eingeengten Sprachmöglichkeiten.

Wer von Euch mich gut kennt und weiß, wie viele Schwierigkeiten ich schon in Deutschland hatte mit dem "Man macht es so... das muß so sein ... das ist so üblich hier ... das gehört sich so", der kann vielleicht nachempfinden, wie es mir manchmal geht. Geduld, meine Liebe, Geduld, Ruhe, klare Entschiedenheit, wo es nötig ist, sage ich mir dann, und oft verzweifle ich auch, und frage mich. ob ich mir nicht doch zuviel vorgenommen habe... und dann kommen Khalil oder sein Vater oder eine seiner Schwestern: Wir wissen, daß es nicht leicht ist für Dich, hier zu leben...dann überrascht mich ein Bruder mit genau der blauen Farbe, die ich mir für das Küchenregal gewünscht hatte, dann laden mich die Nachbarfrauen ein, nur um mir zu sagen, wie sehr es sie freut, daß ich mit ihnen leben will und dafür zu danken und sich zu entschuldigen, daß sie kein Englisch können... Inzwischen macht es Eische, 8 Jahre alt, Spaß, bei mir "Cafe allemanie" (Filterkaffe) zuzubereiten, mit Milch und Zucker zu servieren und zu erklären, was das ist. Zögernd wird dann gekostet - aus Höflichkeit - und manchen schmeckt es sogar!

Was mir immer wieder weh tut, aber überall begegnet, in Gesprächen mit weniger gebildeten Männern, in Frauenrunden, bei Handwerkern usw., ist das "wir lieben die Deutschen. Wir lieben Hitler". Und dann versuche ich immer klarzumachen, welches Verderben Hitler angerichtet hat und auch, daß letztlich wir unsere Probleme mit und unsere Schuld an dem jüdischen Volk auf den Schultern der Palästinenser ausgetragen haben, letztlich nicht nur wir Deutschen, sondern die Europäer.

Und ich muß mich dem stellen, daß hier wirklich kein Frieden ist, daß weiterhin Land, das Palästinensern gehört, von Israel enteignet wird, für den Ausbau ihrer Siedlungen oder für militärische Zwecke, daß Häuser zerstört werden usw. Dies betrifft sowohl den "Großraum Jerusalem", der ca 40% der Westbank umfaßt als auch die Gegend um Hebron. Hier wurden im Oktober gerade 6000 Dunam (km2) Land enteignet, 300 Olivenbäume ausgerissen usw. Es wurde tatsächlich auch eine ungenehmigt begonnene neue Siedlung im Norden Palästinas geräumt; die Erweiterung der bestehenden Siedlungen und die Ausdehnung auf die nächsten Hügel ringsum allein in den 6 Wochen, in denen ich in Deutschland war, hat mich aber schon erschreckt.

Der israelische Ministerpräsident Barak ist bereit, 18% des Territoriums der Westbank und Gaza an die PNA, d.h. die Palästinenser, zur Gründung ihres Staates abzugeben, das sind 2% des Territoriums von Palästina inkl. Israel. Es ist genau das, was einen wirklichen Staat Palästina und ein ebenbürdiges Neben- und Miteinander von Palästinensern und Israelis unmöglich macht: ca. 5 große Städte einschließlich unmittelbar benachbarten Siedlungen, in denen die Mehrheit der Palästinenser lebt, ohne Land, umgeben von einen Ring israelischer Siedlungen, und damit die Festschreibung der "Landnahme" durch die Israelis. Gerade heute las ich in "Haaratz", einer israelischen Zeitung, daß mittlerweile 6 Millionen Palästinenser als Flüchtlinge im Ausland leben.

Am Checkpoint in Bethlehem ist letzten Montag, am 25.10.99, ein 29-jähriger Palästinenser von einem israelischen Soldaten erschossen worden. Er sollte seine Identitätskarte zeigen, und als er sie aus der Tasche ziehen wollte, glaubte der Soldat, er greife nach einem Messer... Die Folge - zum Glück begrenzt auf das Gebiet um "Rachels tomb" eine kleine Intifada: Steine werfende Palästinenser, schießende Israelis. Jetzt ist es wieder ruhig; ich habe den Checkpoint gestern passiert - freundliche Soldaten.

Vielleicht noch ein kleines Alltagserlebnis: Anne, ein 20-jähriges Mädchen aus Radebeul, war hier zu Besuch. Sie mußte Samstag morgen 8 Uhr zurückfliegen. Freitag abend entschloß sie sich, schon abends hinzufahren, um genügend Zeit für die sicherlich ausführliche Kontrolle am Flughafen Tel Aviv zu haben und den Flug nicht zu verpassen. Ein Onkel von Khalil wollte sie mit seinem Taxi hinfahren. Im letzten Moment, es war inzwischen 23 Uhr, gestand er uns, daß er z.Zt. keine Genehmigung hat, in israelische Gebiete zu fahren. Inzwischen weiß ich, daß Taxis aus der Westbank, wenn überhaupt, so nur von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends, eine Genehmigung bekommen. Aber wir hatten keine andere Fahrtmöglichkeit mehr - zumal wegen der Shabbatruhe auch in Westjerusalem niemand mehr erreichbar war. Deshalb entschied sich Khalil, der sich für die Situation verantwortlich fühlte, mitzukommen, obwohl auch er damit etwas Verbotenes tat.

Also saßen wir in einem Taxi mit Westbankkennzeichen - weithin erkennbar - zusammen mit zwei Palästinensern, die etwas Verbotenes taten. Marylene wünschte uns alle Schutzengel. Durch Jerusalem gab es genug Schleichwege, und vor dem Kontrollpunkt am Flughafen wurde Anne abgesetzt; wir konnten uns kaum verabschieden. Dann ging es Richtung Hebron, und wir taten wirklich etwas sehr Gewagtes. Wir wählten den direkten, kürzesten Weg, auf dem wir einen israelischen Kontrollpunkt passieren mußten, um schnellstmöglich in der Nacht heimzukommen. Der Soldat schlief nicht und stoppte uns. Was würde geschehen? Auto, Fahrer und Beifahrer durften hier nicht sein! Würden sie uns stundenlang warten lassen oder eine hohe Strafsumme aufbrummen oder...? Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter, der israelische Soldat guckte rein und verlangte zwei Zigaretten! Das erste mal in meinem Leben war ich richtig froh, daß ich rauche...! Wir gaben ihm 6 Zigaretten und fuhren weiter.

Inzwischen habe ich in "Beit Adam" die jungen Männer, die vorher mit mir in Beit Noah gelebt hatten, besucht. Große, herzliche Wiedersehensfreude auf beiden Seiten. Sie erzählten mir, wie sie aus den Fehlern gelernt und begriffen haben, daß ein Haus, in dem man nett miteinander lebt, zu wenig ist. Mal sehen, was weiter dort wird... Sie wünschen sich einen guten Kontakt, gegenseitige Unterstützung und Erfahrungsaustausch. Auch Yvette Naal aus Frankreich konnte ich, als sie die Familie in Halhul besuchte, kennenlernen und einige Hinweise von ihr bekommen, wie ich die jüdische Seite nicht vernachlässige. Sie gab mir Adressen ihrer jüdischen Freunde.

Nochmals möchte ich die Einladung aussprechen: In Halhul könnt Ihr auf ganz persönliche Art und sehr unmittelbar Palästinenser, ihr Leben, ein Stück arabische Welt, die Situation in der Westbank und alle Probleme des Friedensprozesses kennenlernen. Vielleicht sagt Ihr es auch Freunden, die nach Israel fahren, weiter. Ich denke, es wäre unser möglicher Beitrag für den Frieden, mal aus dem Touristenbus auszusteigen...


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